Es war ein sehr langer Tag gewesen.
Lang und sehr anstrengend.
Ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie war heute der Wurm drin gewesen. Nichts lief so, wie es sollte.
Ich hätte nie gedacht, dass ich mal glücklich darüber sein würde, in der Bahn zu sitzen. Normalerweise empfand ich das als wesentlich anstrengender, als die Arbeit.
Die Bahn war immer voll, die Luft stickig und das Gedränge groß, aber heute konnte mich nichts mehr umhauen, dafür war ich einfach zu ko.
Ich lehnte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und schloß die Augen. Was für eine schöne Stille…
Meine Mutter hatte schon recht; man kann sich jederzeit und überall Ruhe verschaffen, wenn man es nur wollte.
Ein heftiges Ruckeln riss mich aus meinen Gedanken:” Entschuldigen sie, Fräulein”, es fiel mir schwer die Augen zu öffnen, doch das Geruckel hörte nicht auf, “Entschuldigen sie, Fräulein, Endstation, sie müssen aussteigen!”
Mit einem tiefen Seufzer bückte ich mich nach meiner Tasche und erhob mich schwerfällig.
“Dankeschön”, nuschelte ich und stieg aus dem Zug.
Irgendetwas war seltsam an der Situation gewesen. Verwirrt drehte ich mich noch einmal zu der Bahn um und konnte meinen Augen kaum glauben. Ich war mir nichts sicher, aber ich hätte schwören können, dass der Schaffner von hinten wie ein riesiger Gorilla aussah. Haarig, sehr breite Schultern und lange Arme.
Als ich damit fertig war meine Augen zu reiben, hatte der Zug schon längst das Gleis wieder verlassen. Es war wohl nur ein Tagtraum gewesen, kein Wunder, nach dem Stress heute.
Während ich noch immer innerlich über diese Vorstellung lachte, ein Gorilla in Schaffner-Uniform, registrierte ich langsam, dass der Bahnhof sich irgendwie verändert hatte. Das alte Holztor war keines mehr, dort, wo es normalerweise gestanden hatte leuchtete nun ein riesiger Torbogen in allen erdenklichen Farben. Über ihm schwebten in goldener, glitzernder Schrift, die vor dem Abendhimmel einfach nur traumhaft aussah, die Wörter “Verrückte Welt”.
Wo war ich hier nur gelandet? Ich konnte mir ziemlich sicher sein, dass dies nicht meine Haltestelle war und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass man einen Bahnhof innerhalb eines Tages so massiv verändern konnte.
Die Straßen, die Laternen, die Häuser, ja sogar die Wiese erstrahlten in den buntesten Farben, die man sich nur vorstellen konnte.
“Da bist du ja endlich”, ertönte eine leise Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich in die Richtung, aus der ich die Stimme vermutete, aber da war nichts.
“Hier untern”, piepste es noch einmal und da sah ich sie: Eine kleine Katze, die mir direkt in die Augen sah und mit ihrer kleinen Zunge über ihre spitzen Zähne leckte.
“Wa…”, mehr brachte ich nicht heraus, das wurde mir einfach zu viel!
“Komm, folge mir”, und ohne meine Antwort abzuwarten lief sie los. Vollkommen benommen schwankte ich hinter ihr her, unfähig nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Wenn ich so darüber nachdachte, sofern das möglich war, hatte ich mich vielleicht doch nicht geirrt, was den Gorilla vorhin betraf.
Die Katze lief ohne ein Wort zügig vor mir her und ich war gespannt, was für ein Wunder sie mir als nächstes zeigen würde, denn inzwischen war ich mir sicher, dass ich das alles nur träumen würde und dass ich es genießen sollte. Immerhin konnten Träume einen nicht verletzen, was sollte also schon groß passieren.
Plötzlich blieb die Katze unvermittelt stehen.
“Wir sind da”, miaute sie und verschwand in der Dunkelheit des Gestrüpps. Unsicher musterte ich die Umgebung, in der ich zurückgelassen worden war. Ich stand vor einer großen, alten und steinernden Villa, die mir im Gegensatz zum Bahnhof ziemlich heruntergekommen vorkam.
Ich beschloß sie trotzdem einmal zu erkunden, wenn ich denn schon hier war und außerdem wirkte sie auf ihre heruntergekommene Art immer noch schön, ruhig und sehr romantisch.
Ich bahnte mir einen Weg durch das Gestrüpp und dem Efeu, das schon fast das ganze Haus in sich verschlungen hatte und kam schließlich in einen großen, dunklen und staubigen Raum.
Gerade, als ich weitergehen wollte entzündete sich mitten im Raum eine einzelne Kerze. Faziniert von dem Scheindes Feuers lief ich langsam, fast wie hypnotisiert auf sie zu. Je näher ich kam, desto besser konnte man einen Schatten im Licht der Kerze erkennen.
Erst als ich direkt davor stand konnte ich den Schatten identifizieren; es handelte sich um ein großes, gläsernes Himmelbett, das geradezu dazu einlud sich in seine flauschigen,weißen Kissen zu legen und einfach zu träumen.
Vorsichtig streifte ich mir die Schuhe von meinen Füßen, legte meine Tasche ab und kletterte auf das Bett. Es war so weich und warm…
“Nur ein paar Minuten”, dachte ich und schloß die Augen.
Ich träumte von der Villa, der kleinen, grauen Katze, den atemberaubenden Farben dieser Stadt, dieser verrückten Welt und ich träumte von dem Gorilla…
“Entschuldigen sie, Fräulein”, ein Rütteln, “entschuldigen sie, Fräulein, Endtstation, sie müssen aussteigen!”
Langsam öffnete ich die Augen und sah in das faltige, liebenswürdige Gesicht des Schaffners, den ich jeden Tag in der Bahn antraf und lächelte…

©Sarah Jakobeit 2005

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