[ANM.:Im Kunstunterricht haben wir selbst Marionetten hergestellt. Die Klausur dazu sah so aus, dass wir uns eine Lebensgeschichte zu der Marionette ausdenken sollten. Wir bekamen dann ein paar Sätze vorgegeben, die wir in den Text einbauen mussten und mussten das ganze in Form eines Briefes an eine Fremde Person schreiben. Zudem bekam jeder zwei Überraschungswörter, die er irgendwie in den Text einbauen musste. Meine waren: Plattenspielernadel, Mount Everest]

Liebste Freundin,
Auch wenn Du mich nicht kennst, so habe ich doch das Bedürfnis mich Dir mitzuteilen. Ich hege die Hoffnung, dass meine Lebensgeschichte Dir eine kleine Hilfe auf Deinem weiteren Wege sein wird.
Selbst, wenn wir uns unbekannt sind, so möchte ich doch hoffen, dass sie Dich interessiert.

Ich sitze hier gerade an einem wahrlich wunderschönen Ort, an dem ich von strahlendem Licht, Wärme und positive Gefühlen umgeben bin. Um mich herum erstrahlt das Glück, doch ein bisschen Trauer hat auch hierher seinen Weg gefunden.
Ein leichter, aber zarter Windhauch spielt mit meinen langen, schwarzen Locken, die ich gerne in einem Zopf trage, da sie mich oft an der Nase kitzeln möchten.
Meiner Vorliebe für Verspieltes ist es zu verdanken, dass sie von einem Haarreifen mit Fransen geschmückt sind. Obwohl es hier nicht kalt ist, trage ich einen schwarzen Seidenschal, den ich einmal mit zwei alten hölzernen Knöpfen verziert habe. Ich kann nichts dafür, ich bin mit ihm gegangen und nun wird er mich wohl auf Ewig begleiten.
Der kleine Wind hier zerrt an meinen Kleidern, die locker in meinen Lieblingsfarben fallen.
Wie oft wurde mir gesagt, ich solle ein Kleid anprobieren, doch ich bevorzugte schon immer eine leichte Hose und ein gemütliches Oberteil.

Wenn ich mir so überlege, wie ich vor einem Jahr noch durch Berlin lief und glaubte ein glückliches Leben zu führen, so kann ich jetzt nur noch darüber lachen.
Ich lebte in einer alten Lagerhalle, die ich zu einem Atelier umfunktioniert hatte. Es war vielleicht nicht das Beste, doch die Miete war erschwinglich und es erfüllte seinen Zweck. Es war ausreichend Platz zum Wohnen und Arbeiten zugleich. Mein Bruder hatte mir sogar eine kleine Küchenecke und ein Bad eingebaut.
Ich verdiente nicht viel Geld mit meiner Kunst, doch das, was ich an kleine Bars oder Cafés verkaufte, reichte für meine Bedürfnisse aus.
Ich rechnete jedoch nicht damit, dass meine Arbeit eines Tages in gerade so einer Bar entdeckt werden würde.
Doch das Schönste für mich war meine Liebe zu ihm, dem Mann, der mein Leben erst lebenswert machte. Er gab mir immer das Gefühl etwas Besonderes zu sein. Er unterstützte und motivierte mich bei all meinem Tun. Wir teilten alles, unser Geld, unsere Gedanken und unsere Liebe.
Doch ich war dumm gewesen. Es war naiv von mir zu denken, dass sich niemals etwas ändern würde. Hat Dich das Schicksal schon einmal enttäuscht, liebste Freundin?
Unsere Liebe war so stark. Neben ihm hätte ich sogar den Mount Everest auf Stöckelschuhen besteigen können.
Es war an einem sonnigen Tag, als er sich auf den Weg machte, um für seinen alten Plattenspieler eine neue Nadel zu kaufen, als er plötzlich von zwei gottlosen Männern in eine Gasse gezerrt, überfallen und getötet wurde.
Mein ganzes Leben brach zusammen. Es verlor vollkommen seinen Sinn für mich. Ich stürzte mich in meine Arbeit und sperrte mich in meinem Atelier ein. Meine Freunde machten sich ernsthafte Sorgen um mich, doch ich ließ sie nicht zu mir durchdringen.
Monatelang arbeitete ich an einem großen Gemälde in das ich all meine Gefühle legte.
Am Ende kam ein Bild heraus, von dem ich selbst wohl am meisten überrascht war. So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben erreicht und es würde wohl auch nie wieder so etwas in meinem Leben geben. Ich brachte es zu einem Kunstkritiker und wurde erneut überrascht, es gefiel ihm. Er wollte eine große Ausstellung mit meinen Bildern machen, doch wieder mischte sich das Schicksal ein.
Liebste Freundin, kennst Du dieses Gefühl, dass Du dem Verlauf Deines Lebens hilflos gegenüber stehst.
Meine Bilder wurden gezeigt, sie waren erfolgreich, meine Ausstellungen waren immer ausverkauft. Ich wäre bestimmt ein sehr geachteter Mensch geworden…

Ich werde mich wohl nie an dieses Gefühl gewöhnen alles von hier oben zu betrachten. Es ist eine völlig neue Sicht des Lebens und ich bin glücklich dabei. Ich habe die Liebe in mir wiedergefunden, jedoch auf einer völlig neuen Ebene.
Ich muss Dir etwas erklären, liebste Freundin.
An dem Tag, an dem ich den Kunstkritiker besucht hatte, ging ich verwirrt nach Hause. Ich war eine Sekunde unaufmerksam und sah das herannahende Auto nicht.
Mit 22 Jahren zu sterben würden viele Menschen als zu früh bezeichnen, doch ich bin zufrieden damit.
Allen Menschen, die einmal mein Leben bildeten, bin ich nun für immer nah.

Diese himmlische Botschaft schenke ich Dir, liebste Freundin, zu Trost und Zuversicht.

Marie

©Sarah Jakobeit 2003

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